3.33 - Kontext der Neuverleihung der Stadtrechte 1906: die Entwicklung der wirtschaftlichen Einflussnahme Deutschlands

 

Es ist uns daran gelegen, in etwa den wirtschaftlichen Kontext zu schildern, in dem die zweite Verleihung der Stadtrechte an Esch im Jahre 1906 stattfand.

Im deutsch-französischen Krieg von 1870 hatte Frankreich das Elsass und das département Moselle an Deutschland verloren. Esch lag nun an der deutschen Grenze. Die aufstrebende Eisenindustrie hatte keine Zukunft mit einer Produktion, die sich auf Erze und Gusseisen beschränkte. Die Einführung der neuen Technologien zur Stahlherstellung, insbesondere das Thomasverfahrens verlangte riesige Kapitalien, die in Luxemburg nicht vorhanden waren. Die Zollunion mit dem neuen II. Deutschen Reich Wilhelms und Bismarcks und die Tatsachen, dass die Kohle größtenteils aus Deutschland eingeführt wurde und dass die Eisenprodukte größtenteils nach Deutschland exportiert wurden, legte eine steigende Einflussnahme des deutschen Kapitals in Luxemburg nahe.

Der bekannte Historiker Gilbert Trausch nennt in einem Aufsatz „Der Einfluss Deutschlands in Luxemburg um 1900“ folgende Zahlen: 1903 wurden 13.7 % der luxemburgischen Erzförderung nach Deutschland exportiert; 1911-1913 waren es im Durchschnitt rund 38%. Der Import von Kohle kam 1903 zu 83.8% aus Deutschland, am Vorabend des 1. Weltkrieges waren es rund 90%.

Dieser steigende Einfluss Deutschlands war eigentlich schon durch den Londoner Vertrag von 1839 vorgezeichnet worden. 1842 war der Beitritt zum Zollverein gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt worden. Damals, nach der Abtrennung von 2/3 des Territoriums, mag international und auch wohl national die Meinung dominierend gewesen sein, dass dieses winzige Land von 2.500 qkm mit 175.000 Einwohnern, wirtschaftlich nicht lebensfähig sein konnte und früher oder später in Deutschland, Belgien oder Frankreich einverleibt werden würde. Vorerst wurde der Zollverein 1847, 1853, 1865, 1872 und 1902 verlängert, zuletzt bis 1960. Ab 1879 gab es noch besondere Schutztarife für die Exporte, die Deutschland ausgehandelt hatte und die mit für Luxemburg galten. 1872 wurde die Wilhelm-Luxemburg- Eisenbahn, also der wichtigste Teil des noch jungen Bahnnetzes von deutschen Betreibern übernommen.

Nach 1890 wurde das belgische Kapital aus der Eisenindustrie weitgehend verdrängt. Eine deutsch-luxemburgische Aktiengesellschaft mit deutscher Dominanz errichtete in Differdingen ein riesiges integriertes Stahlwerk. Danach kam es zum Bau der Adolf-Emil-Hütte (heutiges Arbed-Belval) durch die Gelsenkirchener Bergwerks-AG; sie fuhr 1912 an. 1912 versuchte August Thyssen die letzten Minenkonzessionen zu erwerben, ein Versuch, der allerdings fehlschlug.

Die große, moderne Hütte von Belval sollte eigentlich in Russange errichtet werden. Lange Zeit bemühten sich die Industriellen, die nötigen Terrains zusammen zu kaufen. Die vielen verschiedenen bäuerlichen Eigner hielten an ihren Schollen fest und wollten nicht verkaufen, resp. spekulierten sie auf höhere Preise. Da bot sich das Gelände des Clair-Chène-Waldes an, das im Gemeindebesitz war. Der Clair- Chène-Wald war immer der Escher Gemeindewald gewesen, wo der Schweinehirt seine Herde hineintrieb, damit sie sich an den Eicheln mäste. So erwarb die

 

Gelsenkirchener Bergwerks AG das Bauterrain in einem Block von der Stadtverwaltung. Der Wald wurde gerodet und die Hütte aufgerichtet. Von diesem Wald hat ein kleines Überbleibsel bei der Ausziehbrücke überlebt. Die Substanz des Belval-Werkes befand sich immer auf Escher Territorium: Hochöfen, Stahlwerk und Walzstraßen. Später kamen auf der Beleser Seite neue Terrains hinzu, die u.a. die Agglomerierung (Aufbereitung der Erze) aufnahmen. Diese Terrains machen heute aber die große Mehrheit der Fläche des neuen Großprojektes Belval-Ouest aus, das immer mehr Wohnungen, einen Park, Gewerbeimmobilien und das Lycée Belval beherbergt.

So bekam Esch eines der größten Hütten der damaligen Zeit, allerdings unter Aufopferung des Gemeindewaldes, weil die Rüssinger ihre Terrains nicht herausgeben wollten. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage auf zu werfen, warum die Luxemburgische Regierung sich um 2005 dazu entschloss, die Universität Luxembourg auf Belval-West zu implantieren. Es sieht so aus, als wenn die Geschichte sich nochmals wiederholt hätte und dass die Tatsache ausschlagend war, dass die Terrains billiger und an einem Ort zentralisiert zu haben waren.

Im großen Ganzen entwickelte sich die deutsche Technologie in diesen Jahren schneller als die französische. Ein Teil des lothringischen Eisenbassins war in deutscher Hand. Von der Einführung dieser Technologie profitierte natürlich die Wirtschaft des kleinen Landes ungemein. Eine Konsequenz war, dass es nicht genug ausgebildete Fach- und Führungskräfte in Luxemburg gab und dass die leitenden Posten in Industrie und Eisenbahn von Deutschen besetzt wurden.

Diese Entwicklung spiegelte sich auch durchaus im Escher Stadtbild wieder. Manche Straßenamen, die heute nicht mehr gebräuchlich sind, zeugen von der Dominanz des deutschen Kapitals in diesen Jahren. Diese Straßennamen wurden nach 1906 und bis zum 1. Weltkrieg vergeben. Die Aachenerstrasse (jetzt rue Renaudin), die Adolf-Emilstraße und Platz (jetzt Stalingrad), die Gelsenkirchener Straße (jetzt Léon Weirich), die Rhein-Elbestraße (jetzt rue Dr. Welter). Diese Namen stammen also wohlverstanden nicht aus der Hitlerzeit, die Namen waren nicht aufgezwungen, sondern vom Escher Gemeinderat so vergeben worden. Sie beriefen sich allesamt auf deutsche Konzerne, die in Luxemburg investierten und sind eigentlich keine geografische Zuordnung. Adolf und Emil sind die Vornamen zweier Direktoren aus dem Gelsenkirchener Bergwerksverein. Zu dieser Zeit störten sich die Lokalpolitiker also nicht daran, in der Benennung der Straßen der Stadt Referenzen von jenseits der Mosel zu nehmen.

 

  © Copyright Frank Jost, Weitergabe gestattet nur mit Quellenangabe 

Download
3.33.pdf
Adobe Acrobat Dokument 49.9 KB