3.32 Das Leben im industrialisierten Dorf Esch

 

Die Industrialisierung verlief nicht harmonisch. Nach dem Anschluss vom Elsass und dem département Moselle an Deutschland machte sich der Konkurrenzdruck der lothringischen Hütten bemerkbar. Zudem kam die britische Konkurrenz und die Verschlechterungen der Tarife der Zollunion. 1873-1875 fiel der Preis der Tonne Eisen von 117 auf 40 Franken (Flies). Die Zahl der Grubenarbeiter fiel um ein Drittel, auch die Hütten entließen Arbeitskräfte. Die Mehrheit der Hochöfen standen nicht mehr unter Feuer. Es war eine Überproduktionskrise. Früher oder später war die neue Industrie nur abzusichern, wenn sie Fertigprodukte anbieten konnte. Die luxemburgische Eisenindustrie konnte noch nicht Stahl aus Guss machen. Zum Ende dieser Krise, 1879 erwarb Metz die Lizenz zum Thomasverfahren, die aber erst 1886 in Düdelingen innoviert wurde, in Esch erst 1903. Die Bevölkerung war aber stets angestiegen, 1875 sogar sprunghaft.

 

Die Escher Infrastrukturen, die Wohnstruktur, die überlieferten gesellschaftlichen Traditionen passten nicht mehr zu der neuen Entwicklung. Wie das Leben in Esch verlief, wird einem bodenständigen, nicht gerade hochwertigen, satirischen Marsch von Félix Krein besungen, „den Erzmann“. Der Inhalt der verschiedenen Strophen: Die Eisenbahn wird als eine große Wohltat begrüßt; der Notar verdient sich eine goldene Nase ohne viel zu arbeiten; die Wirte verdienen gut am Zahltag, danach ist Ebbe; die Schmelzen sind eine Geldgrube aber auch eine ewige Plage; die Bevölkerung nimmt zu, aber die Kirche leert sich; wenn ein junges Mädchen nur ein kleines Stück Erzland besitzt ist es hart umworben; der Brauer Fonck macht ein leichtes Bier, doch bringt es manchen vors Gericht; der Mann, der alles ins Rollen brachte ist, Norbert (Metz).

 

Ein Stadtentwicklungskonzept gab es damals gar nicht. Das teils noch bäuerische politische Personal unter Bürgermeister Pierre Claude war wohl zu solchen Überlegungen nicht imstande. Die Hüttenherren hatten noch nicht so stark Einfluss auf die Entscheidungen der Gemeinde genommen. Am Beispiel des Baus der Sankt Josefskirche lässt sich das nachvollziehen. Es war gewiss nicht die zentrale Priorität und doch erhielt Esch 1877 eine riesige Kirche, die für eine mittlere Stadt dimensioniert war. Esch zählte damals 5345 Einwohner. Lange wurde gestritten, ob die Kirche im Burgoard oder an ihrer aktuellen Stelle errichtet werden sollte. Metz plädierte dafür, die Wege zu pflastern, das sei viel dringender.  Ein kleines Detail aus der Polemik: nach den Plänen von Staatsarchitekt Arendt sollten die Türme neben dem Portal stehen, wie das gewöhnlich der Fall ist. Der Pfarrer legte sich quer und verlangte die Türme nahe beim Chor und der Sakristei, damit er die Messdiener besser überwachen konnte, wenn sie die Glocken läuteten.

 

Viele der Fachkräfte für die neuen Industrien stammten aus Deutschland und manche von ihnen hatten die protestantische Religion. 1873 konstituierte sich die erste protestantische Gemeinde. Die Gottesdienste wurden in Schulsälen und im Friedensgericht abgehalten. Die 1888 errichtete Kirche wurde größtenteils von protestantischen Fürsten aus Deutschland finanziert. Drei Jahre später sollte Luxemburg einen protestantischen Großherzog in der Person Adolfs von Nassau-Weilburg bekommen.

 

1878 demissionierte Bürgermeister Claude und machte Platz für Dominik Josef Hoferlin, einem Vertrauten von Norbert Metz. Unter Hoferlin sollten eine Reihe von Infrastrukturarbeiten in Angriff genommen werden. 1873 war die Verbindung der Linie nach Bettemburg mit der Prinz-Heinrich Linie nach Petingen hergestellt worden. 1875 war eine kurze Linie zwischen dem Lallingerberg nach dem Galgenberg gebaut worden, ausschließlich für den Erzabbau. 1880 wurde der neue Bahnhof errichtet und es kam eine doppelgleisige Strecke von Esch nach der lothringischen Grenze hinzu. Da inzwischen die Attertlinie Petingen-Ettelbrück eingeweiht worden war, gab es nun zwei Möglichkeiten, von Esch nach dem Norden zu gelangen. Von dem Datum an hielt der Zug von Luxemburg nach Paris-Est in Esch. Das dauerte bis zum Bau der Strecke Luxemburg – Petingen. Seit 1883 gab es eine Strecke in die Hoehl.

 

Die Gemeindeverwaltung legte die Bahnhofsavenue an, die den Weg nach Beles über eine neue Alzettebrücke mit dem Bahnhof verband. Die Otherstrasse (Boulevard Kennedy) wurde besiedelt, so dass das Grenzer Viertel urbanistisch an Esch angebunden wurde. 1875 war ein 7.Schuljahr eingeführt worden, dem 1884 die Gründung der Oberprimärschule folgte. Die Versorgung mit Trinkwasser erfolgte 1884-1885, der Bau des Schlachthofes ebenfalls. Um diese Zeit entstand auch das Neidierfchen als neues Stadtviertel. Dennoch war die Wohnungsfrage nicht gemeistert. Die Stallungen des Berwartschlosses, „Metzerkasären“ genannt, beherbergten eine Unmenge von ledigen Arbeitern. Die sanitäre Situation war trotz des 1873 errichteten ersten Krankenhauses (heute in der Léon Metzstrasse) nicht befriedigend. Es gab nur wenige Ärzte und keine Krankenschwestern. Nach der mörderischen Pockenepidemie von 1882, die 60-80 Tote brachte, forderte die Gemeindeverwaltung Krankenschwestern des Elisabethordens an, die auch Hauspflege machten.

 

Das gesellschaftliche Leben hatte bisher der kleinen Dorfgesellschaft entsprochen. Nach und nach bilden sich Vereinigungen, die der neuen Soziologie des angehenden Industriestädtchens entsprachen, vor allem Musikgesellschaften.

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